Felix erhielt seinen Spitznamen, den nie jemand in seiner Gegenwart verwendet, weil er in mehreren Initiativen bürgerlichen Aufruhrs engagiert ist. Naturschutzbund, Foodwatch, etwas für Bienen, gegen Atomkraft und Braunkohle, Fairtrade, Stoppt die Pharmamacht, autofreie Innenstädte, Volksbegehren, Rückkehr zur Demokratie…
Er ist ausgebildeter Krankenpfleger und eine Agentur vermittelt ihn als Zeitarbeiter. Er sagt, er kann so viel am Stück arbeiten, einen Monatslohn in zehn Tagen mit je 5 Stunden Bereitschaftsschlaf verdienen.
Beim Konzert einer Speedfolkband traf er Luise. Die Freundin von Tabea, mit der er Krankenpflege gelernt hatte. Sie unterhielten sich toll, total offen und sie küßte ihn auf einem von Linden beschatteten Teil der Straße, damit er nicht in sein Zögern wie in eine Glaskugel blickte, eine Milchglaskugel, kurz: sie nahm die Sache in die Hand, damit er es nicht versemmelte.
Es war ihm schon einmal passiert, daß das Mädchen die Initiative über-nommen hatte und nun wußte er, daß es an ihm lag. Mit der anderen hatte er Schluß gemacht, weil ihm Eifersucht flüsterte: Die will immer und jeden! Bei Luise nahm er sich vor klüger zu agieren. Aber Luise hatte, wie es eine der zu pflegenden Großmütter sagen würde, Hummeln im Po! Fete dort, Festival da, mit Freunden kochen, mal ein Wochenende nach Paris, eines nach Warschau, Demo in Stuttgart, Demo in Berlin usw. Andererseits konnte er sich nicht beschweren. Während seiner 10 Tage Lohnarbeit sandte sie ihm SMS, steckte ihm Kopien von Gutachten in den Briefkasten, warte morgens mit Körnerbrötchen am hinteren Krankenhausausgang, verließ ihn lautlos, wenn er zwei Stunden später berührt-berührt-berührt einschlief.
Es ging 7 Monate lang gut so. Bis sie vom Konzert erzählte, wo die Busse zum Bahnhof ausgefallen und sie mit dem Bandbus mitgefahren waren…
Er war morgens aus der automatischen Tür von Station 22 getreten, hatte gesehen wie über den Ahornbäumen der Nachtregenhimmel aufriß. Ein Riß. Nicht Sonne, sondern Elend, Eiter und Einsamkeit tropften aus dem Riß. Sie war nicht da. Er holte nochmal sein Mobiles heraus, um ein „Komme 10 min später, Liebe!“ zu lesen. Keine Nachrichten. Sollte er anfangen, seine eigene Freundin zu stalken? Der Nachtregen hatte dem Krankenhauspark, der gesamten Stadt gut getan. Die Dächer gewaschen, alle Büsche getränkt, die Erde an Gehwegritzen geöffnet. Ist alles in Ordnung? Wir sind kein Ehepaar, daß sich im Alltag verschleißt, gewöhnt, übersieht oder gar anzuöden beginnt, mahnte er sich. So langsam nahm er nun doch die Morgensonne wahr. Helle taudampfende Frische.
Öffnete zu hause angekommen eine der Webseiten, die er betreute und verlinkte Gutachten der Verbraucherzentrale über Joghurts ohne Vitamine, dafür mit Zucker, Fett und reichlich LKW-Kilometer zum Verkaufsregal. Er beantwortete Emails, belas sich über neue Würmer und Viren, fuhr den Rechner und sich herunter; die Hose blieb neben seinem Drehstuhl liegen. Er schlief ein, ohne etwas gegessen zu haben, mit „Luise!“ auf den trockenen Lippen.
Luise kam am Nachmittag mit einem Geflügeldöner, berichtete ihm hektisch und augenumrändert.
„Warum mußtet Ihr denn unbedingt mit dem Bandbus mitfahren?“
„Na, Isi kennt doch den Schlagzeuger. Außerdem war die Fahrt so toll, das Konzert vorher sowieso und der Elektrogeiger, bei, neben dem ich während der Fahrt saß… war voll nett, so ganz anders und gar nicht abgehoben… Felix siedete und jemand verschraubte den Deckel. Es war später Nachmittag und sie hätte doch den Frühzug kriegen können, müssen… hat ihr der super Elektro- Geiger noch sein Hochbett gezeigt? „Gar nicht abgehoben!“
Kleinkram! Ökologie ist wichtig, unseren Kindern eine lebenswerte Erde übergeben, ein Energiekonzept mit halbem Verbrauch, gleiche Rechte für Rassen und Geschlechter… Luise geht zur Toilette. Felix hat das Radio an: „Lehrerstreik in Frankreich, ein französischer Lehrer sagt gerade: „Für die 20 Prozent Elite, die das Establishment benötigt reicht unser
Bildungssystem aus.“ Felix denkt: Ist es hier nicht genauso? Ökologie benötigt Bildung, Information, die richtige Information. Bildung ist Ländersache. Man müßte als erstes… Er spürt plötzlich und zum ersten Mal, daß er sich mit seinen Vereinen und Initiativen verzettelt. Einzeln zweifelsfrei wichtig, aber seine Kraft und Aufmerksamkeit schlagen an eine Plexiglaswand und zerfasern, wenn auch kompostierbar…
„Elektrogeiger… gar nicht abgehoben… ganz schwarze, so dichte Locken“… Charmeur also auch noch, Zigeuner, äh nein: musikalischer Streichinstrumente-Künstler mit Sinti- und Roma-Hintergrund, Scheiße…
Luise setzt sich dicht neben ihn. „Sind wir zusammen, Luise?“
„Sind wir. Felix, wir sind zusammen.“
Sie neigt ihren Kopf mit dem langen dunkelblonden Haar, das im Sommer von allein helle Strähnchen bildet. Sie läßt ihre grünen Augen mit Flecken von Orange und Braun glitzern. Nur ganz kurz. Dann nimmt sie sein Gesicht in beide Hände, seinen Kopf ohne Locken. Sie tut es so, daß er in ihren Augen nach Lüge sucht, aber begreift, daß er die Lüge schon ins Seegrün hinein tragen müßte, um… „Wir sind zusammen“, sagt er.
Sie küßt ihn aufs Ohr, sieht an die Wand ohne die Wand zu sehen. Er riecht nach Krankenhaus, also zieht sie ihm die Sachen aus. „Im Bandbus mitgefahren!“ hallt es noch in ihm auf und er will sie beinahe hindern, aber dann erfüllt ihn die Gegenwart, die Gegenwart allein. Die Gegenwart trennt Kalkül und kleinliche Erinnerung für drei Stunden vom Netz und im Himmel spielen Geig… Nein: keine Geigen!
Tiefe volle Bässe füllen das Knocheninnere. Bässe als Goldrand an einem teuren Gefäß, nur ist nicht der Rand aus Gold, sondern alles ist warmes Gold. Drums dazu. Bässe und Drums, wie Bauchnabel und Haaransatz, mehr braucht niemand! Gesang? Ach, der Bass singt doch. Der Bass singt, singt. Der Bass singt so nah.