Der Mann der aus dem Regen kam

Ich war auf dem Land bei meinen Eltern, hatte selbstredend Sportsachen dabei. Um laufen zu können, brauchte ich wenigstens zwei Stunden Abstand zu einer Mahlzeit, nicht einfach, wenn man sich bei den Eltern aufhält. Manchmal half nur der Morgen-Nüchternlauf.

Manchmal frühstückten wir ausgiebig, daß mittags niemand Hunger hatte, nicht einmal Appetit. „Udo, ich mache dir ne Schnitte und wir essen abends warm.“ So konnte ich bspw. 14 Uhr gut laufen.

Das Dorf umgeben viele Straßen und Feldwege. Mit dem Fahrradtacho maß ich einige Strecken aus. Von unserem Tor aus bis Lipperts in Bremenhain sind es genau drei Kilometer. Nach Hähnichen rüber, dann Spree, Dunkel-häuser, Bremenhain, unser Tor genau 17 Kilometer… usw.

Einmal teilte ich zwei Kilometer mit einem weiteren Läufer, der wie aus dem Nichts aufgetaucht und etwas jünger als ich schien. Wir sprachen kurz, verab-redeten uns für den nächsten Tag, 12 Uhr, am Nordrand des Dorfes, dort wo dieser Pfahl mit den Wanderwegpfeilen steht. Wir planten eine Runde, nicht allzu weit, einfach ne solide 15.

Tags drauf ist es sonnig, sommerlich warm. 11 Uhr wird die Sonne verdeckt. Es bleibt warm. 11 Uhr 30 setzt ein Landregen ein. 11 Uhr 55 mache ich mich auf den Weg zum Nordrand des Dorfes, erreiche die verabredete Stelle, bereits durchnäßt. Schlenkere mit den Armen, hüpfe etwas zur Erwärmung. Es fehlen 30 Sekunden bis 12 Uhr. Ob der Kollege Regen mag? Noch 20 Sekunden. Was tue ich, falls er nicht kommt: Die Runde alleine laufen, ich ziehe mich doch nicht umsonst um. Richtig frisch fühle ich mich nicht, ich hab Hunger. Noch 8 Sekunden. Normalerweise kann man den Weg, auf dem ich den Läufer erwarte, 800 Meter entlang bis an den Wald blicken. Jetzt ist er von dichten, grauen Regentüchern verhangen. Noch 7 Sekunden bis 12 Uhr. Eine Silhouette schält sich im Regen aus diesem. Etwas bewegt sich. Scheint ein Läufer zu sein. Der erreicht mich genau um Zwölf. Da bin ich bereits einige Schritte nach Norden unterwegs, habe Fahrt aufgenommen, damit er nicht abstoppen muß. Er ist wie ich durchnäßt, grüßt freundlich, ich sage: „Was willst‘n machen?“

„Paar Tempowechsel brauche ich.“

Wir laufen. In den Waldweg wurde Schotter gedrückt, indess unsere Schritte leicht genug sind, darüber hinweg zu schweben. Abwechselnd zeigen wir auf die nächste Kurve oder einen entfernten Baum, sprinten bis dahin.

Nach vier Kilometern laufen wir aus dem Regen hinaus in die Sonne, in einen Lichthof und trocknen rasch. Zwei Kilometer später geraten wir in den nächsten Regen, Regen aus grauen dichten Wellen, keine Tropfen diesmal, wir laufen durch Wasser.

Zwischen den Sprints unterhalten wir uns über Herkunft, bestrittene Wett-kämpfe, andere Läufer und Trainer, die wir kennen. Beide Geschwindigkeiten Sprint und Grundtempo liegen uns, unsere Niveaus sind wohl sehr ähnlich. 12 km sind schnell vorüber. Er biegt ab und ich laufe Richtung meines Dorfes. – Ich sehe ihn noch heute, wie er auf die Sekunde genau, aus den Regenvorhängen steigt, ganz sacht, rhythmisch. –

Zuhause angekommen, bin ich ganz schön kaputt,

habe keinen Hunger mehr.