Im Kraftwerk J. in der DDR mußte wegen dringend notwendiger Reparaturen am Wochenende ein 500MW-Block herunter gefahren werden. Während der Woche fuhr der Block 535MW. Ein Maschinist sagte mir einmal: „Würden wir statt dieser 535, 470MW fahren, ginge nicht soviel kaputt. Aber Berlin will…“
Robbie galt als faul, genügsam, träge. Ich hatte Gelegenheit, ihn über längere Zeit zu beobachten. Faul war er nicht, ganz gewiß nicht, „faul“ traf es einfach nicht, sagen wir: er vermochte wichtig und unwichtig zu unterscheiden.
Er saß während der Schicht beim Kaffee als Ingenieur zwischen Facharbeitern. Man sah es ihm nicht an. Er legte auch keinerlei Wert darauf.
Sehr wohl aber andere: Wenn in der Nacht zum Montagmorgen der 500MW-Block angefahren wurde und eine wichtige Pumpe nicht ansprang – Pünktlich 6 Uhr mußten 500 MW nach Berlin gemeldet werden – der Brigadier der BMSR-Schicht und ein Maschinist versuchten sich an der Steuerung dieser Pumpe, zogen einen Ingenieur von den Maschinisten hinzu, ohne Ergebnis, das Gerät machte keinen Mucks.
Nach etwa 80 Minuten trat der Brigadier in die Werkstatt: „Robbie, kannst Du mal gucken!“ Robbie drückte sich mit einigem Einsatz aus dem Stuhl: „Habt Ihr schon was gefunden?“ – „Nein.“ – „Okay, ich guck’s mir an.“
Ich lief ihm in gebührendem Abstand nach. Der Schaltschrank stand noch offen. Zeichnungen waren zwischen Gestell und Schaltschrankwand geklemmt. Er zog einige hervor, entfaltete sie auf dem Lichtgitterrost, drei Bahnen Papier, jede vier Meter lang. Er betrachtet kleine Lämpchen im Schaltschrank, leuchtende und jene, die eigentlich leuchten müßten. Dann beugte er sich zu den Zeichnungen, verfolgte mit dem Zeigefinger Abzweigungen vom Hauptstrang, entdeckte, wo diese auf der Zeichnung daneben ankamen, erhob sich, verwendete jenen Zeigefinger die Mitte des Brillenrahmens auf die Nasenwurzel zurückzuschieben… ging zum Schaltschrank, prüfte an irgendeiner Stelle ob Spannung anlag, kehrte zu den Zeichnungen zurück. All das tat er ruhig, bedächtig, konzentriert, eine halbe Stunde lang. Schaltete etwas ein, dann wieder aus, die Brille mußte wieder korrigiert werden, prüfte, beugte sich erneut zu den Zeichnungen, ging zum Schrank zurück, überbrückte Kontakte, sah nach kleinen Leuchten… begab sich zu den Zeichnungen.
Irgendwann gesellte sich zum Umgebungslärm ein Geräusch wie Anlaufen, Antouren, Anfahren… Robbie faltete die Zeichnungen zusammen, fein in Ruhe nacheinander zusammen, steckte sie in den Schaltschrank zurück, schloss die Schaltschranktür, brach auf zur Blockwarte.
Dort stellte er sich neben den hartgesottenen Maschinisten. Beide streiften nun mit ihren Blicken dieselben Meßgeräte. Der Maschinist zusätzlich die Uhr, die ihm sagte, wieviel Zeit bis 6 Uhr verblieb.
„Müßte jetzt gehen“, sagte Robbie. Der Maschinist wandte sich ihm zu, Tsunamies aus Dankbarkeit stürzten aus seinen Pupillen. Dürre Worte verboten sich; neben ihm stand der Messias.
Faul war Robbie nicht, ganz sicher nicht. Er saß gern in einem Stuhl und las.