Nirgends war es wie in Boxberg

1967 neben dem kleinen Dorf Boxberg begann man ein großes Wärmekraftwerk zu bauen. Fuhr jemand von Weißwasser südlich in Richtung Bautzen staunte er nicht schlecht, was sich da so tat. Sah gerodetes Gelände mit Wurzeln, die sich klagend zum Himmel reckten. Schon bald war das Klagen vorbei und am selbigen Fleck erhoben sich aus trockenstem Sand Moniereisenskelette, die hielten Beton beieinander für Türme, Maschinenhäuser, Stützen für Fernwärmeleitungen.

Schon bald produzierte man Strom, Kupferspulen in Generatoren taten dies, leitete den Strom durch das kleine Dorf, denn oberhalb des Dorfes sollte eine Siedlung für die Kraftwerksarbeiter entstehen. In der Siedlung ragten 2,5 Quadratmillimeter dicke Alu-Leitungen in die Luft, alle drei Meter Steckdosen angeschraubt. Westliche Geheimdienste verliehen diesem Projekt oberste Priorität. Um diese Steckdosen herum wurden aber doch nur Wohnblocks gebaut.

Noch in der Nacht nach Fertigstellung der Blocks waren alle Wohnungen bezogen. Morgens begrüßten sich die Bewohner erfreut, hatten sie doch nachts einander beim Hochwuchten der Sofas, Wäschesäcke, Kommoden und Grünpflanzentöpfe geholfen.

Was es noch nicht gab, waren Gehwege oder Straßen. Man mußte ja erst herausfinden, wie die Menschen laufen würden. Und von diesen Menschen machte auch niemand den vierten Schritt vor dem ersten.

Regnete es nachts traten sie morgens in den Schlamm. Am Abend ließen sie den Schlamm am Schuh und die Schuhe unten neben dem Eingang. Was schützt Kunstleder besser vor dem Austrocknen als Schlamm?

Im Strümpfen treppauf ist man auch viel leiser. So waren die Menschen. Alkohol tranken sie nur Samstagabend und auch nur um die Kniegelenke für den Tanz zu lockern. Zum Sonntagmorgen gab es eine rote Brause, eine Bockwurst mit dem Ältesten, die Mädchen spielten mit Puppen auf der Wiese vorm Kulturhaus.

Sonntagabend dann wurde der Strom dünner, das Licht karger, aus den Fernsehern wich die Farbe, also schaltete man das Gerät einsichtig ab, ging ins Bett, lief Montagmorgen zum Kraftwerk um neuen Strom herzustellen.

In der Hausgemeinschaft Thälmannstraße 63 verschwanden eines Nachts ein paar Schuhe. Nun liefen alle mit ihren schlammigen Schuhen bis vor die eigene Tür. Vor jeder Treppe wurde zünftig abgetrampelt. Dann trocknete der Schlamm, dann begannen die im vierten Stock bis zum dritten zu fegen, die von dritten zum zweiten Stock hinab usw. Die Leute ganz unten öffneten morgens ihre Tür und mußten zuerst drei, vier Eimer mit dem getrocknetem Schlamm füllen und draussen auskippen, bevor sie zum Tagwerk aufbrechen konnten. Der Bus wartete solange.

Günther im zweiten Stock begann damit sich ein Aquarium einzurichten. Er fragte sich, ob der Schlamm von draussen seinen kleinen Ostasienwelsen gut bekäme oder nur das Wasser trübe machen würde? Seine Frau arbeitete in einem Labor und nahm eine Bodenprobe mit. Diese ergab, daß der Schlamm hoch fruchtbar war, sich in ihm seltene, Jahrhunderte alte Grassamen befanden, sogar Knochenmehl von Sauriern enthielt. Die Bewohner verkauften die vier Eimer von morgens für teure Valuta in den Westen. In der Hausgemeinschaftskasse befand sich nun Westgeld und alle trugen Lewis… Das fiel der Stasi auf und sie schickten Kunibert Flachzange, seit sieben Jahren bei der Firma und Spezialist für Arbeitersprache, in die Thälmannstraße 63, gaben ihm selten gutschmeckende Bratwürste und zwei Kästen Wernesgrüner mit, um das Eis der Delinquenten zu brechen. Sie aßen und tranken unbeschwert, sangen „Spaniens Himmel“ und schenkten Flachzange zum Abschied eine Hose.

Tags darauf erschien Flachzange in Lewis zum Dienst. Telefone liefen heiß, Majore und Oberstleutnants reisten mißgelaunt aus Berlin an, man machte Flachzange nach allen Regeln solider Gewohnheit erst zur Schnecke, dann zur Sau. „Was haben Sie sich dabei gedacht – Mann, halten Sie gefälligst die Klappe – nichts natürlich.“ Flachzange wurde sofort in Unehren entlassen, Bautzen vermied er geradeso, in dem er die Hose da ließ.

Seine Angetraute, Gisela Flachzange stand zufällig am Küchenfenster und sah ihn sein Rad ungeschickt durchs Schneegestöber lenken. Sie schob die fertigen Bratkartoffeln vom Tiegel in den Mülleimer und erwartete ihn erhobenen Tiegels im Flur: „Ach, der feine Herr kommt in Schlüppern nach Hause!“ – „Du Gisi-Schatz, das war alles dienstlich, das is ne ganz komische Geschichte.“ – „Na, dann mal los mit der Geschichte, ich bin schon ganz gespannt!“

Flachzange erhielt binnen zwei Tagen eine Anstellung im Tagebau Nochten. Nun schippte er gutgelaunt und mit Verve Weichen der Grubenbahn frei. Es gefiel ihm draußen „an der Luft“ zu sein. Näherte er sich zur Pause Kollegen stellten diese das Gespräch ein oder wechselten das Thema. Er wußte warum. So ging es bis 1986. Nun hörte er alles mit und ein Kollege sagte ihm: „Alle könnt Ihr nicht verhaften, jemand muß arbeiten, den Laden am Laufen halten.“ Flachzange hatte keinen Kontakt mehr zur Firma, sagte aber nichts, lächelte. Zu Hause erwartete ihn Gisela.

Während der nächsten Tage brachten Tieflader Betonplatten mit vier Ecken vier Ösen in die Siedlung. Ein Kran lud sie ab, zu Stapeln von vier, fünf, sechs oder acht Platten. Wir Kinder warfen unsere Schultaschen beiseite, kletterten auf die Stapel, sprangen runter. Wir wollten herausfinden ab welcher Höhe es beim Landen so richtig an den Fußsohlen zwiebelte! Bei vier passierte nicht viel, bei acht ganz schön. Im Grunde sogar schlimm. Ich probierte Acht kein zweites Mal, andere waren sich nicht sicher, ob es dolle genug war und krochen nochmal rauf…

Bald liefen wir in den Wald, der die neue Siedlung eng umgab. Die Eltern warnten am Abend: Ihr zieht alte Sachen an, nicht die Schul-hose, dann dürft Ihr in den Wald. Ja, Hose umziehen, kostete Zeit, aber unsere Elternbeziehung war ein weises, ausgewogenes Geben und Nehmen. Pionier war man nicht nur in der Schule, auch zuhause.

Irgendwann waren die Betonplatten als Notstraße ausgelegt und für die Flächen dazwischen brachte man Mutterboden. Mutterboden bedeckte und verschönerte das Vaterland. Mutter stand in der Fabrik an Vaters Seite, fuhr Kran, verstand es mit Schraubenschlüssel und Spaten umzugehen. Auch mit Waschmaschine, Schleuder und Kindsköpfen. Vater wußte wie man den Schallplattenspieler für die Weihnachtsplatte bedient. Leise rieselte der Schnee, nur nicht während der Winterferien, daran mußten Partei und sowjetische Wissenschaftler noch arbeiten. LKWs brachten weiterhin Mutterboden aus Halbendorf, 16 km entfernt.

Erschienen Vater und ich irgendwo, lösten wir unserer Ähnlichkeit wegen Begeisterungsstürme aus. Manche bezwangen ihre enorme Rührung mit einem Scherz: „Dieter, den kannste-nich-abstreiten!“ Zwei LKW-Fahrer, Manfred und Helmut, grüßten mich, wenn sie Muttererde brachten, ich war ja der Große vom Baggerfahrer, der auflud. „Willste gucken, wie er das macht? Steig ein.“ Ich fuhr mit hin, winkte Papa, fuhr mit zurück. Hydraulik hob die Ladefläche, der Mutterboden rutschte runter. Ich war in der Welt angekommen. Ich fuhr Lkw, mit. Ich wußte, wo man Mutterboden holt.